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märchen ii

Theaterkritik von den  Bayerischen Theatertage 2017, für die das Stück des Dientzenhofer-Gymnasiums als Eröffnungsstück ausgewählt wurde.

Dientzenhofer-Gymnasium Bamberg
Profilkurs Theater, Leitung: Ludwig Bieger und Dominik Stoecker

Dass Märchen als Thema für eine Aufführung bei einer Oberstufengruppe genannt werden, ist ungewöhnlich, sind sie doch Standard im Repertoire jüngerer Schüler. Was könnte die „Größeren“ also bewegen: Nostalgie, Sentimentalität oder Aufarbeitung guter und schlechter Erfahrungen? Der Profilkurs des Dientzenhofer-Gymnasiums aus Bamberg geht mit seinen Leitern Dominik Stöcker und Ludwig Bieger einen anderen, herausfordernden Weg.

Schon der Anfang der Aufführung verdeutlicht dies. Die Spielerinnen und Spieler in roten Kleidern bzw. goldenen Paillettenhemden und roten Zimmermannshosen betreten wie eine Riege von TurnernInnen die Arenaspielfläche. Dort sind am Rand ein Marimbaphon, eine vierstufige Halbtreppe gegenüber einer einfachen Sitzbank und ebenso diagonal die in etwa lebensgroßen Bilder eines Schafes und eines Wolfes aufgestellt. Kurze Konzentration. Dann ergreift zu den rhythmischen Klängen des hervorragend gespielten Marimbaphons eine der Spielerinnen in gebückter Haltung das Schaf, hält es sich vor Gesicht und Körper und umschreitet wie in einem Ritual die Spielfläche in zögernd-schwebenden Schritten irgendwo zwischen tanzen und springen. Hier geht es also nicht um die Auseinandersetzung mit etwas Konkretem, also dem Textgehalt eines Märchens oder um persönliche Erfahrungen. Vielmehr präsentiert die Gruppe in einer vielfach tänzerisch anmutenden Theaterbildercollage vierzig Minuten lang ihre Ergebnisse auf die Frage nach dem Wesenskern von Märchen als Literatur und ihrer Rezeption.

Die Abstraktheit dieses Ansatzes führt zu emotionalen und offenen Körperbildern und
-choreographien und bezieht eine Auswahl von Zitaten aus den verschiedensten Märchen (Kleine Meerjungfrau, Hänsel und Gretel, Tischlein deck dich, Dornröschen, Froschkönig, Büchners Woyzeck-Märchen und andere) ein. Jede der in der Aufführung zitierten Textstellen ist Anknüpfungspunkt, um Grundsätzlicheres zu zeigen. Möglicherweise Hinweis auf Eigenarten der sprachlichen Form, wenn es einen Chor der Verkleinerungsformen gibt, oder auf Eigenarten der Handlungsführung, wenn in den Bewegungen der Choreographien Trennung und Wiederfinden als Grundmotive (von Märchen) zu erkennen sind. Darüber hinaus findet sich das Prinzip der Wiederholung in vielen repetitiven Bewegungsabläufen und in der Tatsache, dass immer wieder auch auf gleiche Märchenzitate zurückgegriffen wird.

Damit die tänzerischen Bilder, in denen sich die SpielerInnen oft gespannt auf Zehenspitzen erheben, bevor sie gegen einzelne oder Gruppen anlaufen, dann wieder durcheinander hindurch schweben, sich gegenseitig anheben, mit Schnipsen voranschreiten, oder sich von einem Mittelpunktskörper aus lösen und an den Rand der Spielfläche streben, im Kreis tanzen bzw. individuell durcheinander wirbeln, damit also diese abstrakten Bilder richtig verstanden werden, erscheinen im Wort auch zwei theoretische Textstücke, in denen Märchen definiert, bzw. deren psychologische Dimension aufgezeigt wird.  Es war auf den Festivaldiskussionen durchaus streitbar, ob die zitierte lexikalische Definition oder die Einlassungen von Bruno Bettelheim wirklich notwendig waren, zumal sie der Offenheit des Verständnisses gewisse Einschränkungen setzen. Wenn etwa ein Spieler auf der Treppe stehend den Beginn der kleinen Meerjungfrau zitiert, in dem ihre Meererfahrung beschrieben wird, und die anderen Spieler im Pulk mehrfach gegen ihn anlaufen, dann lässt sich das sowohl als Darstellung von Meereswellen lesen, als Hinweis auf das repetitive Erzählprinzip von Märchen, und nicht zuletzt als Reflex auf einen gewissen Widerwillen gegen märchenhafte Idylle im Allgemeinen. Um ein weiteres Beispiel der Mehrdeutigkeit in der Inszenierung zu geben, kann auf einen gegen Ende der Aufführung gezeigten Bewegungskampf zwischen dem Wolf- und dem Schafsbild hingewiesen werden. Auf der literaturwissenschaftlichen Ebene ist dies ein Hinweis auf die Fabelhaltigkeit von Märchen, auf der handlungstheoretischen Ebene wird hier der die Märchen durchziehende Kampf zwischen gut und böse symbolisiert und auf der psychologischen Ebene die Auseinandersetzung mit Angst, die die erzählte Gewalt in Märchen durchaus auslösen kann. In diesen Rahmen gehören auch das rituelle Herumtragen einer großen Holzaxt oder der Verweis auf die Unheimlichkeit des Waldes und seiner Gefahren, wie er sich besonders im Rückbezug auf Hänsel und Gretel zeigt.

Über diesen Rahmen des immanenten Märchenverständnisses hinaus zeigt die Gruppe aus Bamberg, wie Märchen nachwirken und bewältigt werden. Dies deutet die körperhafte Darstellung eines Prinzessinnenspiels oder ein Wettenspiel mit Stein, Schere und Papier an. Zu einer Art literarischen Nachwirkung gehört Büchners Anti-Sterntaler-Märchen, das die oft gute Lösung der Märchenentwicklungen karikiert, indem es bewusst auf menschliche Angst und das heillose Ausgesetzsein des Menschen verweist. Es ist das einzige Kunstmärchen im gesamten Stück.

Nach dem wie ein Feuerwerk angelegten Schluss, indem noch einmal körperlich schwingende Bewegungen zu gewaltigen Marimbaphon und eingespielten Technoklängen immer langsamer werden und schließlich zum Stillstand kommen, zögert der Einsatz des Applauses. Die Wucht der vierzigminütigen Aufführung mit ihren schnellen Bilderfolgen der konzentriert beherrschten Körper, den knappen Texten, den Ritualen sowie der atmosphärisch dichten Musikbegleitung aus Geräuschen- oder Technoloops  und Marimba-Musik, verlangt dem Zuschauer einen Moment des Reflektierens ab. Der Rest des stürmischen Beifalls aber gehörte mit Recht der präzisen, körperbeherrschten und sinnreichen Produktion.

 Michael Aust (Theaterlehrer vom Egbert-Gymnasium Münsterschwarzach)